Prolog
„Sie werden immer Wölfe sein, und wir werden immer Jäger sein. Manche Dinge ändern sich niemals.“
Eduard Graf Zollernburg
Kapitel 1
Wilhelm von Greifenstein. So heißt mein Großvater.
Dieser Name ist alles, was ich über ihn weiß, als ich am Wiener Hauptbahnhof aus dem Zug steige. Meine Hände umklammern den Griff meines Koffers – nicht, weil er so schwer ist, sondern, weil dieser abgewetzte Lederkoffer alles ist, was von meinem alten Leben noch übrig ist.
Unsicher blicke ich mich unter den vielen Menschen auf dem Bahnsteig um. Reisende drängen sich in Richtung Ausgang, und ich drücke mich in die Ecke neben einer Informationstafel, damit ich nicht von der Menschenmenge mitgerissen werde.
Ich habe keine Ahnung, wie mein Großvater aussieht. In unserer Wohnung gab es kein Bild von ihm. Bis vor ein paar Tagen habe ich nicht mal gewusst, dass ich überhaupt einen Großvater habe. Mama hat ihn nie erwähnt, ebenso wie sie niemals über meinen Vater gesprochen hat.
Vor zwei Wochen hat sich alles geändert. Ich verdränge die schrecklichen Gedanken, die seither unaufhörlich durch meinen Kopf geistern, und zwinge mich, stattdessen in die fremden Gesichter der vorbeieilenden Menschen zu blicken. Woher soll ich wissen, wer von ihnen mein Großvater ist?
Ob er überhaupt gekommen ist, um mich abzuholen?
Am liebsten würde ich sofort wieder in den Zug steigen und zurück nach Hause fahren. Bloß – ich habe kein Zuhause mehr.
Was, wenn Wilhelm von Greifenstein mich gar nicht bei sich haben will?
Nervös trete ich von einem Fuß auf den anderen.
Nicht, dass ich eine Wahl hätte. Wilhelm ist mein einziger Verwandter; jedenfalls der Einzige, dessen Aufenthaltsort den Behörden bekannt ist.
Wie wohl seine Reaktion gewesen ist, als das Jugendamt ihm mitgeteilt hat, dass er eine siebzehnjährige Enkelin hat, die ab sofort bei ihm leben wird?
Kaltes Unbehagen kriecht in mir hoch. Genau genommen ist Wilhelm von Greifenstein nicht dazu verpflichtet, mich aufzunehmen. Er ist zwar jetzt mein gesetzlicher Vormund, aber er hätte mich ebenso gut in ein Heim stecken können, bis ich volljährig bin. Es gibt kein Gesetz, das ihn zwingt, mich bei sich wohnen zu lassen.
Bei der Vorstellung, von der Freundlichkeit eines Unbekannten abhängig zu sein, verkrampft sich mein Magen. Ich bin Wilhelm von Greifenstein zu Dank verpflichtet, noch bevor ich ihn überhaupt kennengelernt habe. Der Gedanke macht mich unruhig, denn irgendwo in meinem Kopf flüstert eine warnende Stimme, dass meine Mutter bestimmt einen guten Grund dafür gehabt haben muss, Wilhelm von Greifenstein aus meinem Leben fernzuhalten.
Mein Blick flackert zu dem Zug auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig. Ob ich einfach einsteigen soll? Davonlaufen?
Aber wohin?
Ich habe kein Geld und niemanden, der mich aufnehmen würde. Die Eltern meiner Freunde daheim in Feldkirchen haben mir zwar nach dem Unfall ihr Mitgefühl bekundet, aber niemand hat sich bereiterklärt, mich bei sich wohnen zu lassen.
Niemand wollte mich haben – außer einem fremden alten Mann, der fünfhundert Kilometer weit entfernt wohnt.
Langsam leert sich der Bahnsteig. Eine Gruppe italienischer Backpacker diskutiert wild gestikulierend über einen Stadtplan gebeugt, und eine alte Dame, deren Pudel unablässig kläfft, versucht umständlich, die Hundeleine zu entwirren.
Ich mag Hunde nicht besonders. Instinktiv ziehe ich den Ärmel meiner Jacke weiter nach unten, um die Narben auf meinem Unterarm zu verdecken.
Da sehe ich ihn zum ersten Mal.
Am Ende des Bahnsteigs steht ein alter Mann in einem grünen Lodenmantel. Er trägt einen Hut mit einer Feder und stützt sich auf einen Gehstock. Sein Blick ist auf mich gerichtet, aber er macht keine Anstalten, auf mich zuzukommen.
Mein Herz beginnt, wild zu pochen. Das ist er also. Er muss es sein. Wilhelm von Greifenstein.
Gib ihm eine Chance, Ari. Na los.
Ich hole tief Luft, umklammere meinen Koffer noch fester und gehe auf den alten Mann zu.